Lyrik

Hier ein Gedicht über das Leben...denkt mal drüber nach!



Das Eisenbahngleichnis (Erich Kästner)

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft, ein anderer klagt,
ein dritter redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus. Wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür herein
und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.

Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
und niemand weiß, warum.

Die I. Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr.
Die Mehrheit sitzt auf Holz.

Wir reisen alle im gleichen Zug
zur Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupe.






Gedanken des Autors dieser Homepage über die Zeit:

Die Zeit ist eine Kraft, die an allem zieht, sie lässt
sich durch nichts und niemanden aufhalten.
Wir können versuchen, die Zeit zu verlängern,
dies gelingt jedoch nur auf subjektiver Ebene.

Mit dem Zeugungsakt beginnt bereits der Prozess
des Sterbens. Von der Geburt an erkennt man
Tag für Tag den Prozess der Reife, der gleich-
zeitig der Alterungsprozess ist, aber als solcher erst
in späteren Jahren erkannt wird.

Da also jedem ein gewisses Kontingent an Zeit gegeben ist,
sollte jeder mit diesem sinnvoll umgehen,
denn niemand weiß, wieviel er von diesem kostbaren Gut
zur Verfügung hat.

(Henrik Karrie - 20.01.02)
 

 

Meine Wahl (Erich Fried)

Gesetzt ich verliere dich

und habe dann zu entscheiden

ob ich dich noch ein Mal sehe

und ich weiß:

Das nächste Mal

bringst du mir zehnmal mehr Unglück

und zehnmal weniger Glück

Was würde ich wühlen?

Ich wär sinnlos vor Glück 

dich wiederzusehen

 

 

 

 

Interpretation anlässlich der Deutschstunde der 9b von Henrik Karrie am 14.2.02 

 

Beziehungen, egal welcher Art, durchleben ein ständiges Auf und Ab. Oft kommt es vor, dass zwei Menschen nicht mehr zueinander passen und sich trennen. Trotz allen Schmerzes und Schwierigkeiten in einer Beziehung bleibt dennoch in vielen Fällen ein unsichtbares Band bestehen, welches die voneinander Gegangenen verbindet. Meist ist es auch so, dass ein Partner mehr an dem anderen hängt als umgekehrt und vielleicht sowieso nicht so leicht über eine Trennung hinwegkommt, wie der andere, der sich vielleicht sogar erleichtert fühlt.

 

Fried beschreibt in seinem Gedicht denjenigen Partner, der sich darüber Gedanken macht. Er durchspielt das oben genannte Szenario gedanklich durch und kommt zu dem Schluss, dass er, was auch immer geschehen mag, alles daran setzen würde, den verlorenen Partner wieder zu sehen. "Ich wäre sinnlos vor Glück dich wieder zu sehen" (Zeile 10). Obwohl das lyrische Ich in diesem Gedicht vom Verstand her weiß, dass alles noch schlimmer werden würde als vorher, so sagen ihm seine Emotionen das Gegenteil. Alles Unglück ist somit auszuhalten, da der Gewinn für ihn größer ist. Das lyrische Ich spielt dieses Szenario rein hypothetisch durch, d. h. es ist nichts derart Beschriebenes geschehen. Man erkennt das an dem Anfang des Textes: "Gesetzt ich verliere dich". Vermutlich gibt der Erzähler seinem aktuellen Partner, dem dieser Text gewidmet ist, damit zu verstehen, dass nichts in der Welt ihn davon abbringen könnte, seinen hypothetisch verlorenen Partner wieder sehen zu wollen, auch wenn es mit größten Schwierigkeiten verbunden sein mag. Die rhetorische Frage "Was würde ich wählen?" gibt dem Partner, aber auch dem Leser, eine kurze Denkpause, die die Spannung erhöhen soll. So ist sie denn auch sicherlich deshalb von dem Rest der Gedanken mittels eines Absatzes getrennt. Fest steht, dass der Erzähler einen Partner hat, sonst würde er ihn nicht verlieren können. Um seine Zuneigung bzw. starke Empfindung ihm gegenüber zu bekunden, verfasst er diese Zeilen, in denen er klar aussagt, wie tief er für diesen Partner empfindet. Er wäre sinnlos vor Glück, genauso sinnlos, wie ihm eigentlich der Verstand mitteilt, dass ein Wiedersehen nur Negatives mit sich bringen würde. 

 

Die Überschrift hat eine weitreichendere Bedeutung, als man zunächst annehmen könnte. So ist eine Partnerschaft immer das Ergebnis einer Wahl beider Seiten, da sie sich ja füreinander entschieden haben. Und dennoch hat man auch in Partnerschaften ständig die Wahl, die sich in Form von Entscheidungen zeigt. Man wählt im Prinzip jeden Tag aufs Neue, was man unternimmt, mit wem man was macht und wie man es durchführt. So wählt man permanent, obwohl man sich oft dieser Tatsache gar nicht bewusst ist. Schon die Tatsache, dass man lebt, ist das Ergebnis einer Wahl - zunächst nicht von sich selbst. Doch im späteren Alter hat man ständig die Wahl, dieses Leben zu bestreiten oder zu beenden.

 

Auf unsere Beziehungen bezogen ist das genauso zu verstehen. Jeden Tag kann man dem Partner eine besondere Wahl mitteilen - oder diese Wahl mitgeteilt bekommen. Das birgt, je nach Zustand der Beziehung, vielleicht Unsicherheit, vielleicht gibt es dem aber auch einen gewissen Reiz.

 

 

 

 

Repetition des Gefühls (Erich Kästner)

 

Eines Tages war sie wieder da ...
Und sie fände ihn bedeutend blässer.
Als er dann zu ihr hinüber sah,
meinte sie, ihr gehe es nicht besser.

Morgen Abend wolle sie schon weiter.
Nach dem Allgäu oder nach Tirol.
Anfangs war sie unaufhörlich heiter.
Später sagte sie, ihr sei nicht wohl.

Und er strich ihr müde durch die Haare.
Endlich fragte er dezent: "Du weinst?"
und sie dachten an vergangene Jahre.
Und so wurde es zum Schluss wie einst.

Als sie an dem nächsten Tag erwachten,
waren sie einander fremd wie nie.
Und so oft sie sprachen oder lachten,
logen sie.

Gegen Abend musste sie dann reisen.
Und sie winkten. Doch sie winkten nur.
Denn die Herzen lagen auf den Gleisen,
Über die der Zug ins Allgäu fuhr.

 

 

 

Kurz(!)-Interpretation von "Repetition des Gefühls" von Erich Kästner 

 

"Eines Tages war sie wieder da", die Geliebte, die schon so lange nicht mehr unter seine Augen gekommen ist. Sie findet, dass er blässer geworden ist (Z.2) und dass es ihr im Prinzip nicht besser ginge. Am nächsten Abend werde sie ihn wieder verlassen, sodass ihr Besuch von kurzer Dauer sein werde. Sie benimmt sich heiter, doch ihre Laune wird zunehmend schlechter,sie beginnt sogar zu weinen und alles ist wie früher. Der nächste Tag beginnt, wie der vorige geendet hat, mit einer unsichtbaren Mauer zwischen den beiden. Sie reden und lachen viel, doch es ist nicht ehrlich, sondern sie lügen einander an. Letztlich sind sie selbst zum Lügen nicht mehr in der Lage. Die Sprache weicht der Stille, sie winken nur noch, kein Wort kommt mehr über ihre Lippen. Sie wissen, dass das Unabwendbare eingetreten ist. Ihr Liebe, ihre Herzen liegen auf den Gleisen, sie sind tot, sie werden von dem Zug überfahren, in dem die Geliebte sitzen wird. 

 

Betrachtet man die einzelnen Strophen, so ist unschwer die Tendenz zu erkennen, die unser Paar durchlebt. Zu Beginn ist die ehemalige Geliebte fröhlich, doch es wird ihr zunehmend unwohler zumute."Anfangs war sie unaufhörlich heiter. Später sagte sie, ihr sei nicht wohl" (Z. 7,8). Die Heiterkeit ist der Realität gewichen, diese Realität zeigt sich in der wachsenden Erkenntnis, dass das Streben nach Freude zum Scheitern verurteilt ist. Er streicht ihr "müde durch die Haare" (Z.9). Diese Müdigkeit symbolisiert die Leere im Manne, der endlich fragt, was denn sei. Das "endlich" setzt der fest gefahrenen Situation ein Ende, sie denken an ihre Vergangenheit zurück, die sie noch im Kopf haben, als wäre es am vorigen Tag gewesen. Sie weint, und "so wurde es zum Schluss wie einst" (Z. 12). Dass sich gerade "weinst" auf "einst" reimt, ist sicherlich kein Zufall, ebenso dass dem Wort "weinst" "einst" innewohnt. Vielmehr zeigt es, dass die Vergangenheit der beiden mit vielen Tränen verbunden gewesen sein muss. Spätestens jetzt erkennen unsere Protagonisten, woran sie sind. Der nächste Tag fällt dementsprechend kühl aus, sie sind sich "fremd wie nie" (Z. 14) und schaffen es nur noch, mit Lügen dem ersehnten Ende des Tage entgegen zu sehen.  

 

Diese Ende, die Abreise der Frau, gipfelt darin, dass selbst gespieltes Lachen und Lügen nicht mehr möglich sind. Es gelingt nur noch ein Winken, ihre Herzen liegen auf den Gleisen, die ins Nichts führen. Die Frau steigt in das Transportmittel, welches über ihr Herz (und das ihres ehemaligen Geliebten) führt. Somit ist ihre Abfahrt symbolisch als das Ende von allem zwischen ihnen zu sehen. Sie werden sich sicherlich nicht mehr wiedersehen.  

 

Die Überschrift spiegelt eindrucksvoll den Gefühlszustand der beiden wieder. Ihre Gefühle aus vergangenen Zeiten kommen erneut hoch. Sie weint und so "wurde es zum Schluss wie einst". Das Einst steht hier für das Ende einer vielleicht schönen Zeit, die die beiden einmal hatten, als ihre Freundschaft noch jung war. Doch das Ende - und die damit verbundenen Emotionen - dieser "einst" schönen Beziehung kommt gerade in diesen zwei Tagen wieder in ihnen hoch. Sie erinnern sich daran, an diese Wiederholung des bereits schon einmal erlebten, der "Repetition des Gefühls".

 

 

(Anlässlich einer Deutscharbeit der 9b im März 2003)

 

 

Erich Kästner

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

 

 

Wer mir andere Interpretationen/Gedanken mitteilen möchte, der mir kann das gerne per Mail zukommen lassen!

 


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